Stellen Sie sich vor: Ein Film, der die Kühnheit eines Einzelnen im Kampf gegen ein totalitäres System feiert, wird zum Kassenschlager. Und das nicht irgendwo, sondern mitten in Russland unter Wladimir Putin.
Trotz heftiger Kritik aus kremlnahen Kreisen läuft die Neuverfilmung von Michail Bulgakows Roman "Meister und Margarita" landesweit in den Kinos. Angeblich zeigen einige Kinos den Film bis zu zehn Mal täglich – eine fast schon teuflische Frequenz, bedenkt man die Länge von fast drei Stunden.
Die Realität scheint die Fiktion zu imitieren. Eine Szene im Film zeigt, wie linientreue Kritiker einen Schriftsteller für seinen "schädlichen, reaktionären und antisowjetischen" Text angreifen. Seine "Frechheit": In einem Theaterstück zu behaupten, dass jede Macht korrumpiert. Das Stück wird umgehend abgesetzt. Später versichert ihm ein intellektueller Höfling auf einer Party: "Tut mir leid, war nicht persönlich gemeint, ist halt mein Job."
Die Geschichte spielt im Moskau der 1930er Jahre, zur Zeit der Stalinistischen Säuberungen. Bulgakow selbst litt unter einem Schreib- bzw. Veröffentlichungsverbot. Eine erste Fassung von "Der Meister und Margarita" verbrannte er 1930, aus Angst vor den Konsequenzen. Doch er begann von Neuem. Es entstanden insgesamt vier Fassungen.
Die Entstehungsgeschichte als Thriller
Die Veröffentlichungsgeschichte ist ein Thriller für sich, mit heimlich kursierenden Textvarianten und einer ersten Veröffentlichung in einem Magazin Ende der 1960er Jahre. Der Roman wurde durch den Eisernen Vorhang geschmuggelt, von europäischen Verlagen übersetzt und begründete so seinen Ruhm. Viele halten ihn für den besten Roman seiner Epoche: realistisch, fantastisch, ernst, komisch, eine magische Burleske und zugleich eine tieftraurige Liebesgeschichte und scharfsinnige Machtkritik.
Eigentlich widersetzt sich die Geschichte einer Verfilmung. Zu sprunghaft wechselt sie zwischen Zeit- und Realitätsebenen. Da ist der autobiografische Strang, in dem Bulgakow quasi von sich selbst erzählt: ein einsam schreibender Autor, aus der Schriftstellervereinigung ausgeschlossen, aber von Stalin persönlich an der Ausreise gehindert, ein lebender Toter. Seine Geliebte Margarita inspiriert ihn, den Meister, Zuflucht in der Fantasie zu suchen, indem er seine Freunde und Bekannten ins Übersinnliche überzeichnet.
Margarita und Woland
Margarita verwandelt sich in eine Hexe, die nackt und mit Tarnsalbe beschmiert durch Moskau fliegt, um sich an den Kritikern des Meisters zu rächen. Und der Teufel höchstpersönlich tritt auf, ein Deutscher natürlich, der hier als "Woland" firmiert, ein Professor für schwarze Magie, bei dessen Vorstellungen schon mal Köpfe rollen und Geld vom Himmel regnet. Er ist ein Agent des Chaos, dabei im Sinne Goethes "Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft" – auch er bestraft im Endeffekt alle, die dem Meister schaden, eine manifest gewordene Rachefantasie.
Der Regisseur Michael Lockshin stammt aus einer jüdischen Familie, die einst vor Pogromen im Zarenreich in die USA floh. Lockshins Vater wiederum fühlte sich dort verfolgt und bat um Asyl in Russland, das ihm von Jelzin gewährt wurde. So wuchs Lockshin – Jahrgang 1981, gebürtiger Amerikaner – in Russland auf. Als Kritiker des Krieges ist er dort heute eine Persona non grata und lebt in Los Angeles.
Lockshin stieß 2020 zu dem bereits geplanten Projekt, schrieb aber das Drehbuch neu und drehte 2021 in Moskau und St. Petersburg – mit einem russischen Cast (einer besser als der andere), mit einer Ausnahme: Den deutschen Teufel spielt August Diehl – herrlich hochtrabend und höflich bedrohlich.
Ironie der Geschichte
Die Ironie ist beissend: Der lebenslang verfolgte Bulgakow ist längst zum nationalen Kulturgut geworden, und so gab es für die Verfilmung Millionen an Zuschüssen vom Kulturministerium. Dann kamen Krieg und die Gleichschaltung der öffentlichen Meinung. Plötzlich schien nicht mehr Stalins, sondern Putins Russland das Ziel der Totalitarismus-Satire zu sein. Dennoch wurde schliesslich der Kinostart gestattet.
Unter diesen Bedingungen hätte viel schiefgehen können. Doch das Ergebnis ist eine Offenbarung. Es erscheint sofort überzeugend, wenn man liest, dass der russische Filmkritiker Anton Dolin "Meister und Margarita" zum "besten kommerziellen Film der modernen russischen Geschichte" erklärt hat. Tatsächlich ergänzen sich die visuellen Schwelgereien mit Kamerafahrten hinaus durch Fenster und hinein in die Nachbarwohnung, die Massenszenen von rauschenden Festen wie in "Babylon Berlin" oder die teuflische VarietÜ©show fantastisch mit der brillanten Seelenkunde und dem abgeklärten politischen Scharfsinn, wie sie nur eine Verfilmung grosser Literatur liefern kann. "Der Zauberberg" als Blockbuster, "Berlin Alexanderplatz" als "Harry Potter" für Erwachsene – so ungefähr fühlt sich "Meister und Margarita" an.
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